Ein krummer Rücken macht keinen Schmerz

18.06.2022

Ein Rundrücken macht keine Schmerzen


Dass eine strukturelle Abweichung zu chronischen Beschwerden führt, leitet sich aus einem biologisch-medizinischen Modell ab.

Wenn ich mir etwa beim Sport das Knie verletze und der Unterschenkel in einem völlig abnormen Winkel absteht, dann verursacht diese strukturelle Abweichung offenkundig den Schmerz.

Ebenso kann eine Röntgenaufnahme einen Bruch anzeigen, also eine strukturelle Abweichung.

Und wenn ich mit einer Axt im Kopf ins Krankenhaus komme, müssen wir nicht lange über die Ursache meiner Kopfschmerzen philosophieren.

Diese für akute Schmerzen absolut sinnvolle Vorgehensweise wird dann auf chronische Schmerzen übertragen.

Sieht man mithilfe eines bildgebenden Verfahrens etwa eine vorgewölbte Bandscheibe oder erkennt der Körpertherapeut eine Beckenkippung oder verdrehte Knie, so nimmt man an, dass diese strukturelle Abweichung die Schmerzen macht.

Im englischsprachigen Raum spricht man hier von „Wear and Tear“, also Abnutzung und Verschleiß.

Man nimmt an, dass eine strukturelle Abweichung wie etwa X-Beine bestimmte Stellen im Knie überbelastet und so die Schmerzen verursacht. Behebt man die X-Beine, behebt man die Schmerzen, weil ja die Mehrbelastung behoben wird.

Das erscheint auf den ersten Blick auch vollkommen logisch und hält sich vermutlich deshalb auch so hartnäckig sowohl bei Therapeuten als auch Klienten. Sie ergibt einfach Sinn.

Das Dumme ist nur, dass diese Annahme keine Evidenz hat.

Wenn jemand beispielsweise Rückenschmerzen und gleichzeitig einen Rundrücken hat und damit zu einem Therapeuten geht, dann ist der Therapeut geneigt, die Rückenschmerzen dem Rundrücken zuzuschreiben. Was er in diesem Moment nicht sieht, ist, dass es Millionen von Menschen mit dem gleichen Rundrücken gibt, da aber keine Rückenschmerzen haben.

Das gilt prinzipiell für alle strukturellen Abweichungen. Und das ist im Übrigen auch in der Medizin bekannt.

Bevor man ein MRT bei Schmerzen im unteren Rücken macht, müssen drei hart definierte Kriterien zutreffen, die man als diagnostische Triage bezeichnet. Das macht man deshalb, weil man eben weiß, dass bestimmte strukturelle Abweichungen auch bei Menschen ohne Schmerzen im unteren Rücken vorliegen können.

Das Gleiche gilt auch für andere Diagnosen wie etwa Kniearthrosen. Manche haben dieses Merkmal und keine Schmerzen, manche haben dieses Merkmal und eben Schmerzen und manche haben keine erkennbare Kniearthrose und dennoch Schmerzen.

Solche Abnutzungserscheinungen sind im Übrigen mit zunehmenden Alter vollkommen normal. Die hat jeder. Das ist eine Begleiterscheinung des Alters wie graue Haare. Jetzt käme ja auch niemand auf die Idee Alzheimer den grauen Haaren zuzuschreiben.

Warum haben aber nicht alle Menschen mit verdrehten Knien oder einem Rundrücken chronische Schmerzen? Findet da keine Überbelastung statt?

Eine Erklärung dafür ist, dass der Körper zur Überkompensation fähig ist. So bildet sich bei regelmäßigem Hanteltraining an der Handinnenfläche eine dicke Hornhautschicht. Ein gebrochener Knochen ist an der gebrochenen Stelle nach der Heilungsphase stärker. Und wenn im Knie oder anderen Bereichen des Körpers eine Überbelastung entsteht, werden die entsprechenden Strukturen eben verstärkt.

Chronischer Schmerz ist ein bisschen komplexer als das mechanistische haltungsstrukturelle Modell nahelegt.

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